In einer Welt, in der Scham und sexuelle Gewalt nach wie vor harte Währungen sind, ist die Tatsache, dass die Sexindustrie ein ganz normaler Wirtschaftszweig geworden ist, ein Symptom der ökonomischen Ausbeutung von Frauen in einem Markt, in dem von allen arbeitenden Frauen in gewisser Hinsicht erwartet wird, dass sie ihre Sexualität kommerzialisieren. […] Die Gewalt, die den Körpern von Sexarbeiterinnen angetan wird, und die moralische Marginalisierung von Prostituierten haben Einfluss auf alle Frauen, überall.Laurie Penny – Fleischmarkt
Die Sexindustrie – Ein Milliardengeschäft
Die Sexindustrie ist einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige der Welt. Der Umsatz aus Prostitution wird allein in Deutschland auf ca. 14 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Die weltweiten Einnahmen der Sexindustrie werden auf bis zu 8 Billionen Euro geschätzt. Schätzungen zufolge werden „sexuelle Dienstleistungen“ in Deutschland täglich von ca. 1,2 Millionen Männern in Anspruch genommen.
Die Nutzer und Profiteure der Sexindustrie sind in der Regel männlich. Der reiche Zuhälter wird in den Medien gezeigt und gefeiert, in der Musikindustrie besungen. Von Frauen selbstverwaltete Bordelle gibt es eher nicht. Merkwürdigerweise ist kaum von reichen Prostituierten zu vernehmen, kein Wunder, behalten sie zumeist nicht einmal 10 Prozent des erwirtschafteten Prostitutionserwerbs für sich.
Was genau ist an Prostitution so problematisch?
Prostitution bedeutet, dass in der Regel zwei Personen Sex haben, von denen die eine das will und die andere dafür materiell entschädigt werden muss. Alle gesellschaftlichen Ungleichheiten erscheinen hier wie unter einem Vergrößerungsglas.
Die Mehrheit derjenigen, die Sex verkaufen ist weiblich – die überwältigende Mehrheit der Käufer_innen von Sex hingegen männlich. Warum machen eigentlich nicht Frauen die Hauptkundschaft der Sexindustrie aus? Weil Sex in unserer Gesellschaft als etwas betrachtet wird, dass Männer wollen und begehren, und dem sich Frauen unterordnen (sollen). Es beinhaltet auch die Vorstellung, dass Sex zu haben ein Grundrecht sei, im Gegensatz zu etwas zu dem gemeinsam eingewilligt wird (consent).
Das Wachstum der Sexindustrie hat zu einer schrägen Wahrnehmung von Sexualität beigetragen, die Frauen zu Objekten, ihre Körper zu Waren und zu Mitteln der sexuellen Befriedigung für Männer macht und so die Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft widerspiegelt. Die Verdinglichung (Objektifizierung) der Frau und ihr sexuelles Funktionieren werden als normale „Arbeitsleistungen“ verstanden. Die verbreitete Sicht von Sexualität ordnet die weibliche Sexualität der der Männer unter. Wenn weibliche Körper Waren und Frauen Sexobjekte sind, weibliche Lust in der Mainstream- Pornographie als übertriebener Fake-Orgasmus durch physisch gefährliche und schmerzhafte Formen von Sex dargestellt wird, dann ist das ernsthaft schädlich für die Gesellschaft: Eine solche Sichtweise trägt in fast jedem Land der Welt zu sexualisierten Gewalttaten gegen Frauen bei.
Feministische Kritik an Prostitution geht immer über eine Kritik an Profitorientierung hinaus – sie schließt immer eine Kritik der Art und Weise ein, in der „normale“ Männer in dieser Kultur gelernt haben, sexuelles Vergnügen zu empfinden und die Formen, in denen Frauen und Kinder lernen, die Konsequenzen zu tragen. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang zu stellen ist: Welche Art von Mann kauft sexuelle Handlungen bei einer Frau und findet es sexuell erregend, wenn das Gegenüber nichts empfindet? Der Standpunkt, Kritik an Prostitution auf eine Form der Arbeiter_innenausbeutung zu verkürzen (Arbeiter_innen, die nicht den vollen Wert ihrer Arbeit ausgezahlt bekommen) trägt zur Verharmlosung der Sexindustrie bei – sehr zu deren Schadenfreude.
Übrigens: Wenn Sexarbeit ein Beruf wie jeder andere wäre, wäre die logische Konsequenz diesen Beruf auch an den Schulen vorzustellen und Praktika in Bordellen anzubieten. Die Empörung über die versuchte Vermittlung von Frauen in Bordells und Escort-Services durch Jobcenter ist nur dann nachvollziehbar, wenn mensch Prostitution als „normale“ Arbeit ablehnt. Prostitution wird inzwischen bereits als legaler und legitimer Weg aus Armutsverhältnissen verstanden, der Frauen zumutbar sein soll. Dessen sollte sich jede_r bewusst sein.
Von einer gesellschaftlichen Akzeptanz von Prositution sind wir alle betroffen, denn eine florierende Sexindustrie hält Sexismus und Patriarchat aufrecht und ist deshalb für die Gesellschaft allgemein schädlich. Wirkliche Gleichberechtigung ist erst dann erreicht, wenn eine Verdinglichung von Frauen in allen Bereichen, auch der Prostitution, beendet ist.
Freiwillig und selbstbestimmt?
Der erste Schritt darin, eine glückliche Hure zu werden, ist natürlich, eine sein zu wollen. […] die große Mehrheit der Frauen, die ich über die Jahre getroffen habe, arbeiteten in der Prostitution, um aus finanziellen Problemen herauszukommen und nicht weil sie eine Neigung zu teuren Handtaschen
entwickelt hätten. Die Annahme der freien Entscheidung führt zur Annahme der Freiwilligkeit, aber die Begriffe Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit passen bei dieser Frage nicht. Sie sind deplatziert […] weil ein Kontext entsteht, indem echte Einwilligung völlig unmöglich wird. Rachel Moran, irische Überlebende der Prostitution
Während es einerseits eine weltweite Nachfrage nach Prostitution und andererseits extreme Armut und schlechte Lebensbedingungen gibt, entsteht die global florierende profitorientierte Sexindustrie. Der riesige Anstieg der Prostitution in Griechenland ist eine direkte Folge der brutalen Verarmung und Verelendung der griechischen Bevölkerung durch die rigide Kürzungspolitik der Regierung und Troika. Von den Prostituierten in Deutschland stammen derzeit ca. 90 Prozent aus Osteuropa.
Die Tatsache, dass die Mehrheit derer, die in Bordellen, in Modellwohnungen, auf der Straße und als Callgirls arbeiten Migrant_innen sind, weist auf eine fehlende Wahl hin. Überwiegend arme Frauen, ohne finanzielle Mittel, Sprachkenntnisse und Aufenthaltsstatus erleben die Sexindustrie als einzige Möglichkeit, ihre materielle Existenz abzusichern. „Freiwilligkeit“ ist deshalb ein relativer Begriff. Wenn Arbeit in der Sexindustrie freiwillig wäre, würden nicht gerade hauptsächlich die Ärmsten mit den wenigsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt sich prostituieren.
Mit Zwangsprostitution verbundener Menschenhandel wird als moderne Sklaverei bezeichnet und ist eine wachsende Branche. Er existiert und ist ein fester Bestandteil der Sexindustrie, der nicht aus ihr entfernt werden kann.
Die mediale Verbreitung der stark empowerten Sexarbeiterin steht im krassen Gegensatz zu den Erfahrungen der meisten Prostituierten und hat mir deren Leben nichts, aber auch gar nichts, zu tun. Die Verbreitung dieses Bildes von Prostitution ist Teil eines Backlashes, der die Unterdrückung in der Gesellschaft kleinredet oder gar leugnet und bewusst versucht, eine zutiefst sexistische und ausbeuterische Branche reinzuwaschen.
Eine Reduktion der Gründe für das Anbieten von Sex auf Armut ist jedoch zu kurz gegriffen: Viele Studien weisen darauf hin, dass die in der Prostitution Beschäftigten überdurchschnittlich häufig in ihrer Kindheit Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben.
Begriffe wie „Sexarbeit“ oder „sexuelle Dienstleistungen“ dienen dazu die Machtbeziehungen, Ausbeutungsverhältnisse, das Leiden und die Gewalt in der Sexindustrie zu verschleiern. Sie dienen dazu den Verkauf des weiblichen Körpers als modern und frei gewählt zu betrachten. Positiv besetzte Arbeitsbegriffe werden als gesellschaftsförderlich und kollektiv nützlich bewertet (Fetischisierung der Arbeit)
In einer Studie wurde Prostituierten aus neun Ländern die Frage gestellt „Was brauchst du?“.
Die Antworten waren so eindeutig wie einleuchtend:
- 89 % Ausstieg aus der Prostitution
- 75 % ein sicheres Zuhause
- 76 % Berufliche Weiterbildung
- 61 % Zugang zu medizinischer Versorgung
- 56 % individuelle psychologische Betreuung
- 51 % gegenseitige Solidarität („Peer support“)
- 51 % Rechtsbeistand
- 47 % Drogen- und/oder Alkoholentzug
- 45 % Selbstverteidigungstraining
- 44 % Kinderbetreuung
- 34 % Legalisierung der Prostitution
- 23 % Körperlichen Schutz vor Zuhältern
Abschaffung der Opfer?
Die von einigen geforderte Neubesetzung des Opferbegriffs für die in der Prostitution Beschäftigten ist problematisch. Statt als Opfer sexueller Ausbeutung durch Freier stellen sich Prostituierte als Opfer feministischer Bevormundung dar, da ihnen – angeblich – das Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung streitig gemacht werden soll. Dabei wird mit einem verkürzten und patriarchal tradierten Begriff von Selbstbestimmung gearbeitet, der nur eine Option bietet: Die ständige sexuelle Verfügbarkeit von Frauen. Sexuelle Selbstverwirklichung finden Sexverkäufer_innen sicherlich nicht in der Prostitution, wo Sexkäufer_innen dafür bezahlen dass ihre Wünsche erfüllt werden.
Die Sterblichkeitsrate von Frauen in der Prostitution ist um ein vielfaches erhöht. Eine weltweite Studie hat ergeben, dass 68% der befragten Frauen an Posttraumatischer Belastungsstörung litten – ein ähnliches Ausmaß wie bei Opfern von Folter und Kriegsveteran_innen (Ramsey et al, 1993).
Viele Prostituierte werden physisch angegriffen, mit einer Waffe bedroht oder während der Arbeit in der Prostitution vergewaltigt. Vielsagenderweise will die Mehrheit der Prostituierten nicht, dass ihre Kinder Prostituierte werden.
Unterdrückung anzuerkennen bedeutet nicht, deren Opfer zu entmenschlichen, sondern das Gegenteil. Es bedeutet Empathie und ein Verständnis der enormen Schwierigkeiten, der Stressbelastung und des Leids, welches das kapitalistische System insbesondere den ärmsten und stärksten marginalisierten Menschen in der Gesellschaft zufügt. Die Anerkennung der Existenz von Unterdrückung. und der Wunsch an ihrer Überwindung mitzuwirken, bedeuten eben nicht die wichtigen Rechte von Prostituierten zu leugnen, die selbst aktiv werden und gegen Unterdrückung kämpfen wollen. Sie nimmt ihnen nicht das Recht, sich selbst und ihre Arbeit so zu nennen wie sie es möchten. Sie ignoriert auch nicht die riesigen Unterschiede zwischen den Erfahrungen und den Intensitäten der Ausbeutung innerhalb der Sexindustrie – zum Beispiel zwischen eine_r Telefonsexbeschäftigten und einer Frau im Bordell. Der Wunsch sich von moralistischen und verurteilenden Positionen abzugrenzen, rechtfertigt nicht die Leugnung der extremen Unterdrückung in der Sexindustrie.
Es ist deshalb kein Widerspruch sich für die Rechte von Prostituierten einzusetzen und trotzdem unerbittlich gegen die Sexindustrie zu kämpfen. Eine Organisation innerhalb der Sexindustrie erschöpft sich jedoch in der Regel nicht darin, denjenigen eine Stimme zu geben, die unter der größten Marginalisierung, Unterdrückung und Ausbeutung leiden und vollkommen machtlos und isoliert sind – z.B. Opfer des Menschenhandels. Zudem sind einige Sexarbeiter_innenorganisationen überhaupt keine Gewerkschaften, da sie die zentrale Voraussetzung der gewerkschaftlichen Organisierung ablehnen, dass es einen Konflikt zwischen Arbeiter_innen und Bossen gibt. Sie werben für die Sexindustrie und helfen den Bossen damit Profite zu machen. Die International Union of Sex Workers hat eine prominente „Sexarbeiter-Aktivistin“ als Sprecherin, die eigentlich eine Escortfirma betreibt. Die IUSW ist für jede_n offen, einschließlich Zuhälter_innen, Akademiker_innen und Sexkunden. Nur eine Minderheit der wenigen Mitglieder sind tatsächlich Prostituierte. Viele derjenigen die aus einer vermeintlichen Betroffenenperspektive argumentieren haben sich selbst nie prostituiert. Die Rhetorik der Prostituiertenverbände und -vereine ist unsachlich und unredlich. In den Texten werden zentrale Thesen („viele“/ der „überwiegende Teil“, die „Mehrheit“ der „Sexarbeiter_innen“ arbeiten selbstbestimmt und freiwillig) nicht belegt. Es werden Behauptungen aufgestellt, die nicht einmal einer oberflächlichen Überprüfung standhalten. In den bitteren Appellen, in denen es um Gehör für „Sexarbeiter_innen“ geht, kommen nur jene zu Wort, die bestimmte Inhalte glaubhaft vertreten. Die Pamphlete der Rotlichtlobbyisten/-vereine argumentieren nicht, sie reihen Behauptungen aneinander und setzen ein sexistisches Basisverständnis voraus.
Prostitution/Sexarbeit legalisieren?
Wenn die Reformer eines Tages ihre Bemühungen darauf konzentrieren würden, die Ursachen zu vernichten, anstatt die Opfer zu verfolgen, würde die Prostitution nicht länger Schande über die Menschheit bringen. Emma Goldman
Keine Frau, kein Mann, keine Trans_person sollte durch das Gesetz kriminalisiert werden oder durch den Staat Nötigung und Schikanen – oder moralischer Verurteilung – ausgesetzt werden wenn sie/er als Prostituierte_r arbeitet. Damit werden Prostituierte_r weniger diskriminierend stigmatisiert und ein Umfeld geschaffen, dass es ihnen erlaubt Gewalt und Missbrauch anzuzeigen. Eine volle Legalisierung hingegen vermittelt, dass es okay ist materiellen Wohlstand zu benutzen um den Körper einer Frau oder eines Mannes zu kaufen.
Nach der Legalisierung von Prostitution wurden Prostituierte trotz Mega-Expansion des Gewerbes nicht de-stigmatisiert. Eine Legalisierung kann die Sexindustrie nicht entschärfen oder kontrollieren, sie wird immer einen illegalen Aspekt haben: Auf Nachfrage nimmt auch das Angebot von illegalen Leistungen zu, z.B. sexuelle „Dienstleistungen“ die Kinder ausführen oder sexuelle Akte, die in vielfältiger Art physisch gefährlich sind.
Es braucht deshalb einen Blickwechsel von der Angebots- auf die Nachfrageseite. Das so genannte schwedische Modell stigmatisiert und bestraft Freier. Nicht der Verkauf, sondern der Kauf von Sex wird gesellschaftlich geächtet. Grundlegende gesellschaftliche Veränderung setzt antisexistische Erziehung bereits ab dem Kindergarten voraus. Es ist ein Gewinn für die Gesellschaft und die Geschlechtergerechtigkeit wenn bereits Grundschüler_innen wissen, dass Sexualität gegenseitiges Einverständnis voraussetzt und die sexuellen Bedürfnisse von allen Beteiligten berücksichtigt werden.
DIE LINKE täte gut daran, sich nicht weiter innerhalb der europäischen Linksparteien in ihrer Positionierung zur Prostitution zu isolieren, sondern dem System Prostitution endlich den Kampf anzusagen.
Prostitutionsbefürworter_innen wollen uns glaubhaft machen, dass der Körper ein vom Bewusstsein abspaltbares Etwas sei, über das man zudem noch unter allen Umständen eine rationale Kontrolleausüben könne. Wir glauben, dass das nicht der Fall ist: Einem Menschen ist es unmöglich, permanent von Unbekannten penetriert zu werden, dabei den eigenen Körper unter Kontrolle zu haben, Teile des Denkens abzuschalten, Angst vor Gewalt zu haben, gleichzeitig Lust vorzuspielen wo Ekel herrscht, kurz, zu ignorieren wie der eigenen Körper von Fremden gebraucht wird und dazu zu lächeln und lustvoll zu stöhnen. Der Funke
Quellen u.a.
- Laura Fitzgerald, Aktivistin von ROSA und der Socialist Party (CWI in Irland): Eine sozialistische Perspektive auf die Sexindustrie und Prostitution
- Der Funke: Prostitution: Wider die Neubewertung gesellschaftlicher Barbarei – Eine Streitschrift gegen Helen Wards Revisionismus
Dieser Text wurde von LISA Wiesbaden einstimmig beschlossen als Positionierung von links gegen Prostitution. Menschen, die sich der Positionierung anschließen möchten können sich gerne bei uns melden.